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Blog > Eintrag: Zwei Briefe an Stalin
Zwei Briefe an Stalin Samstag, 13. Oktober 2007, 11:47:37 Der Briefwechsel zwischen Gorki und Stalin ist in Russland 1997 und 1999 in größeren Teilen publiziert worden (s. dazu in der Kategorie „Streit um Gorki“ den Beitrag „Eine schwere Schuld – Gorki und Stalin“). In Deutschland ist dieses wichtige Material wenig bekannt. Als Leseprobe lege ich hier zwei Briefe des Schriftstellers an Stalin erstmals in deutscher Übersetzung vor (für diesen Blog von mir angefertigt). Die Originaltexte wurden erstmals in der Literaturnaja gazeta vom 10.März1993 veröffentlicht. Kalendarischer Anlass war der bevorstehende 125. Geburtstag Gorkis (28.März). Die Publikation mit Anmerkungen besorgte der Direktor des Gorki-Archivs in Moskau, V.S. Barachov. In einem auf derselben Seite veröffentlichten Interview – „Ein Gorki, den wir nicht kennen“ – berichtete Barachov von neuen wichtigen Materialien , die das Gorki-Archiv gerade aus dem Präsidentenarchiv (dem ehemaligen persönlichen Archiv Stalins) und aus dem Parteiarchiv beim ZK erhalten habe. Das Wichtigste darin: 46 Briefe Gorkis an Stalin aus den 30er Jahren. Die Briefe waren, wie zahlreiche andere Dokumente, unmittelbar nach Gorkis Tod (18. Juni 1936) von einer Kommission augenscheinlich unter dem Gesichtspunkt ihrer politischen „Gefährlichkeit“ ausgewählt und aus dem Archiv im Moskauer Haus Gorkis in Archive der Partei und des NKWD verlagert worden. Dort waren sie der Öffentlichkeit und auch dem wissenschaftlichen Gebrauch entzogen. Die ersten Veröffentlichungen größerer Teile des Briefwechsels Gorki-Stalin gab es erst Ende der 90er Jahre, die Publikation der „Literaturka“ war eine der ersten zu diesem Thema. Dem Geist der Perestrojka entsprechend stand Gorki um diese Zeit unter Anklage. Vor allem seine Kooperation mit Stalin wurde ihm als Verrat an den eigenen demokratischen und freiheitlichen Idealen vorgeworfen, wie er sie in seinem Frühwerk und auch in der Artikelserie „Unzeitgemäße Gedanken über Kultur und Revolution“ (1917/18) vertreten hatte. Vor diesem Hintergrund stellte die Veröffentlichung der Briefe an Stalin gleichsam einen Entlastungsangriff für die schwer beschädigte Reputation des „großen sowjetischen Schriftstellers“ dar.War er wirklich ein willfähriger Erfüllungsgehilfe der Politik des Diktators? Barachov verwies im Interview u.a. auf ein bis dahin unbekanntes Faktum. Zwei Wochen vor Beginn des Ersten Kongresses des neu gegründeten Schriftstellerverbandes erklärt Gorki (im Brief vom 2. August 1934) dem „Genossen Stalin“ nachdrücklich und ohne diplomatische Floskeln, er werde um seine Entbindung vom Posten des Vorsitzenden des Verbandes ersuchen, wenn die von der Partei (und damit von Stalin) vorgeschlagenen Kandidaten für das Führungsgremium des Verbandes tatsächlich gewählt würden – und davon gehe er aus. Die Mehrheit dieser Männer sei machthungrig, hinterhältig und in Fragen der Literatur inkompetent. Barachov zeigt sich im Interview überrascht von solchen Tönen bei Gor’kij. Man habe den Schriftsteller immer für eine „monolithische Figur“ gehalten, einen Menschen, der „keine Widersprüche kannte“ und der von dem „heißen Wunsch“ erfüllt war, die Führung der sowjetischen Schriftsteller zu übernehmen. Die neuen Brief zeigten dagegen, dass die Beziehung zwischen dem Schriftsteller und dem Diktator weitaus“ dramatischer“ und „komplizierter“ gewesen seien, als bisher angenommen. Diese Stellungnahme Barachovs ist nicht frei von einer gewissen Scheinheiligkeit. Als leitender Mitarbeiter im Gorki-Archiv und aktiver Propagandist des „monolithischen“ Gorki seit den 60er Jahren war er sicher nicht so naiv, wie er sich hier gibt. Das Material des Archivs bot ihm genügend Möglichkeiten, sich von der Widersprüchlichkeit der Position Gorkis in der Stalinzeit zu überzeugen. Aber mit seiner Kennzeichnung der Beziehung zwischen Gorki und Stalin als „dramatisch“ und „kompliziert“ hat Barachov zweifellos recht. Die hier publizierten Briefe zeigen ein geradezu phantastisches Auseianderklaffen zweier Persönlichkeiten des Schriftstellers: der eine von ihnen ist der loyale Mitstreiter des „teuren, aufrichtig verehrten und geliebten Genossen“ Stalin, dem er wie selbstverständlich auch das Recht des Zensors seiner eigenen Texte einräumt, der andere ein erbarmungsloser Kritiker der von demselben Stalin eingesetzten Literaturfunktionäre. Die Charakteristiken der parteinahen Schriftsteller, die von skrupellosem Machthunger und „Hinterlist“ getrieben werden, lesen sich heute wie verkleinerte Stalin-Porträts. Es gab im ganzen Sowjetreich keinen Menschen, der es gewagt hätte, Stalin gegenüber einen solchen Ton anzuschlagen. Im Endeffekt hat Gorki durch diese Intervention zwar einige eigene Kandidaten, integre Schriftsteller, in die Führung des Verbandes gebracht, aber die gewissenlosen Karrieristen des stalinistischen Typs wurden samt und sonders gewählt, – und Gorki blieb trotzdem auf seinem Präsidentenposten.
Auch der zweite Brief, geschrieben im März 1936, wenige Wochen vor seinem Tod, zeigt einen janusköpfigen Gorki. Einerseits liefert er Stalin einen Rapport über seine Begegnung mit dem Schriftsteller André Malraux, mit dem er über Möglichkeiten der Zusammenarbeit im Kampf gegen den Faschismus verhandelt hat. Gorki unterstreicht die Zweckmäßigkeit dieser Verbindung, die sich aus der bedeutenden und einflussreichen Rolle dieses Schriftstellers in Frankreich ergibt, und geht zugleich auf Distanz zu den „individualistischen“ Ansichten seines Besuchers. Bis dahin scheint voller Konsens zwischen dem Schriftsteller und dem Diktator zu bestehen. Doch dann kommt Gorki auf die Pressekampagne gegen den Komponisten Dmitrij Schostakowitsch zu sprechen, und wieder wird seine Stellungnahme zu einem vernichtenden Urteil über Schostakowitschs Verfolger, die in Wahrheit, direkt oder indirekt, in Stalins Auftrag handeln. Die Berufung auf Stalins Wort von der Notwendigkeit eines „behutsamen Umgangs“ mit den Menschen ist ein taktisches Manöver und zugleich ein Beweis für die fast naive Zuversicht, dieser Appell könne bei dem Diktator Gehör finden. Freunde und Feinde Gorkis haben diese Doppelrolle des „Mitstreiters“ und des Opponenten Gorki als tragisch, lächerlich oder verabscheuungswürdig bewertet, und sie haben alle in gewisser Weise recht. Eines aber zeigen diese Briefe unzweifelhaft: Gorki war keineswegs ein willenloses Werkzeug des Diktators, und er hatte auch keineswegs seine Urteilskaft über die Entwicklung der Verhältnisse eingebüßt. Dennoch glaubte er offenbar, die Dinge könnten sich noch zum Besseren wenden und es sei unter Stalin und mit Stalin möglich, eine Kulturpolitik nach den Maßstäben von schöpferischer Kraft, gewissenhafter Arbeit, Ehrlichkeit und echtem Enthusiasmus durchzusetzen – eine an Torheit grenzende Illusion.
1. GORKI AN STALIN, 2.08.1934
Ich schicke Ihnen meinen „Vortrag“ [gemeint ist das Referat „Die sowjetische Literatur“, gehalten auf dem Ersten Kongress des neugegründeten Schriftstellerverbandes, 17.08.-1.09.1934] und bitte Sie sehr, sich rasch mit ihm bekannt zu machen, damit ich die Korrekturen, die Sie vielleicht anbringen, noch rechtzeitig einfügen kann. Ich lege an mich gerichtete Briefe der Genossen Mirskij [Dmitrij Mirskij, der auch im Westen bekannte Kritiker und Verfasser einer russischen Literaturgeschichte; aus der Emigration nach Sowjetrussland zurückgekehrt, bald darauf Opfer des Stalinterrors] und Jasenskij [der poln.-russ. Prosaiker Bruno Jasienski, 1938 im Lager umgekommen] bei und auch die Kopie eines Artikels des letzteren, der an die „Pravda“ geschickt und noch nicht gedruckt ist. Wahrscheinlich wird er auch nicht gedruckt, weil Judin und Mechlis [„Pravda“-Redakteure] Leute einer bestimmten Linie sind. Die Ideologie dieser Linie ist mir unbekannt, aber die Praxis besteht in der Organisation einer Gruppe, die das Kommando im Schriftstellerverband übernehmen will. Diese Gruppe besitzt den „Willen zur Macht“ und ist, gestützt auf das Zentralorgan der Partei, natürlich auch fähig zum Kommandieren, aber sie hat meiner Meinung nach kein Recht auf die wirkliche und unumgänglich nötige ideologische Führung der Literatur, sie hat es nicht infolge der geringen intellektuellen Kraft dieser Gruppe, und auch infolge ihrer äußersten Inkompetenz in Bezug auf die Vergangenheit und die Gegenwart der Literatur. Die vorgesehene Zusammensetzung der Leitung des Schriftstellerverbandes aus Personen, die in Judins Artikel genannt sind [in der „Pravda“ unter dem Titel „Über die kommunistischen Schriftsteller“ (O pisateljach-kommunistach)], lege ich ebenfalls bei. Serafimowitsch, Bachmetjew und Gladkov sind meiner Meinung nach “abgearbeiteter Dampf“, intellektuell altersschwache Menschen. Die beiden letzteren sind Fadejew gegenüber feindlich eingestellt, und er, der in seiner Entwicklung stehengeblieben ist, erlebt das offenbar als ein Drama, was ihn im übrigen nicht daran hindert, nach der Rolle des Führers in der Literatur zu streben, obgleich es für ihn und die Literatur besser wäre, wenn er sich um seine Weiterbildung bemühte. Mirskijs Beurteilung des Romans „Der letzte Udehe“ halte ich für vollkommen richtig, aber, nach Judin zu urteilen, fühlt sich Fadejew durch diese Kritik beleidigt. Meine Beziehung zu Judin nimmt immer mehr einen negativen Charakter an. Seine Bauernschläue ist mir widerlich, ebenso die Prinzipienlosigkeit, Falschheit und Feigheit eines Menschen, der im Bewusstsein seiner eigenen Kraftlosigkeit versucht, sich mit Leuten zu umgeben, die noch nichtswürdiger sind als er, um sich in diesem Milieu zu verstecken. Ich glaube nicht an die Aufrichtigkeit des Kommunismus von Panfjorow, gleichfalls ein unzureichend gebildeter Bauer, gleichfalls hinterlistig und krankhaft ehrgeizig, aber mit einem starken Willen begabt. Er kämpft sehr aktiv gegen die kritische Einstellung zu seinen „Bruski“ [Roman, deutsch unter dem Titel “Die Genossenschaft der Habenichtse“; Propaganda für die Kollektivierung; auch Gorki hatte sich öffentlich negativ dazu geäußert], hat sichWarejkis als Verteidiger herangezogen, irgendein Gretschischnikow hat ein lobendes Büchlein über ihn herausgebracht, in dem behauptet wird, der „Erkenntniswert“ der „Bruski“ sei „ohne Übertreibung - gewaltig“.[Andere, bessere Werke zum Thema, etwa von Scholochow und Schuchow, würden von diesen Hauskritikern Panferovs einfach ignoriert Im folgenden Absatz (ausgelassen) kommt G. auf sein ständiges Thema zu sprechen, die Unzuverlässigkeit und Gefährlichkeit des russischen Bauerntums für die Sache des Sozialismus.] Wischnewski, Libedinski, Tschumandrin können nicht Führer von Nichtparteimitgliedern unter den Schriftstellern sein, die besser gebildet sind als diese drei. Die kommunistische Fraktion im Organisationskomitee besitzt keine Autorität unter den Schriftstellern, vor deren Augen sie einen Kampf der Gruppen und Grüppchen veranstalten. Und ich muss sagen, dass die Grüppchen bei uns durch Mäzenatentum geschaffen werden. Einige hochgestellte Genossen halten sich Literaten, die von ihnen, den „Würdenträgern“, besonders gefördert und übermäßig gelobt werden. Und um jeden dieser durch das Lob der „Obrigkeit“ hervorgehobenen Literaten bildet sich ein Grüppchen von noch weniger Talentierten, aber nicht, um bei ihm zu „lernen“, sondern aus materiellen, eigennützigen Motiven des Alltagslebens. Der „Sowieso“ seinerseits sorgt in der Rolle des Mäzenaten dafür, dass die unreifen „Früchte des Schaffens“ dieser Barsche, jungen Hechte und übrigen Fische aus der Familie der Räuber durch die Verlage gebracht werden. Der „Sowieso“ kümmert sich um die Verpflegung und eine Wohnung für seinen Verehrer, den er seinen „Schüler“ nennt, den er aber nicht zum Arbeiten anhält und dem er auch nichts beibringen kann, weil er selbst ein Ignorant ist. Dazu muss man hinzufügen, dass wir es in der Hauptsache mit Menschen um die 30 zu tun haben, die in ihrer Jugend „schwere Zeiten“ erlebt haben, und diese Zeiten haben in der Psyche vieler dieser Menschen eine äußerst schädliche Wirkung hinterlassen: sie sind allzu gierig auf die Vergnügungen des Lebens, haben es allzu eilig, alles, was sich ihnen bietet, zu genießen, und haben keine Lust, gewissenhaft zu arbeiten. Und manche von ihnen beeilen sich derart mit ihrer Sucht nach dem „Leben“, dass diese Eile einen bestimmten Eindruck macht: Diese Leute glauben nicht daran, dass die von der Partei geschaffene Wirklichkeit ausreichend gefestigt ist und sich so weiter entwickeln wird, wie man denkt. Sie meinen, dass der Bauer sich nur zum Schein als „Kollektivist“ gibt, dass es bei uns alle Voraussetzungen zum Faschismus gibt und dass „der Krieg uns weiter zurück in die Vergangenheit führen wird als nur bis zur NÖP“ [Lenins „Neue Ökonomische Politik“, die eine begrenzte Wiederherstellung des Kapitalismus zuließ] Wenn so nur der Kleinbürger, der Spießer dächte, wäre das nicht schlimm, aber so denken gewisse „Parteigenossen“, und das scheint mir alarmierend, obwohl ich , wie bekannt, ein „Optimist“ bin. [Ihm sei von Mitarbeitern der GPU berichtet worden, erklärt Gorki weiter, dass ähnliche Ideen von „Schädlingen“ unter der Schuljugend verbreitet würden. Und gerade die „Kinder“ müsse man vor dieser „kleinbürgerlichen Seuche“ schützen] Alles oben – und bei weitem nicht vollständig – Gesagte überzeugt mich von der Notwendigkeit einer äußerst ernsten Aufmerksamkeit für die Literatur, die „Übermittlerin von Ideen in das Leben“ – un d ich füge hinzu, nicht so sehr von Ideen als von Stimmungen. Teurer, aufrichtig verehrter und geliebter Genosse: der Verband der Schriftsteller muss unbedingt eine Führung von höchster ideologischer Solidität erhalten. Die gegenwärtig ablaufende Auswahl von Personen wird von Karrieristen bestimmt und deutet voraus auf einen kleinlichen, persönlichen Kampf der Gruppen im Verband, gänzlich fern von der Linie der Organisation einer LIteratur, die eine ideologisch einheitlich wirkende Kraft darstellt. Nicht viele verstehen die kulturrevolutionäre Bedeutung der Literatur. Ich weiß, dass man Ihnen Listen von Menschen vorlegen wird, die für die Leitung und das Präsidium des Verbandes empfohlen werden. Ich weiß nicht – wer sie sind, aber ich ahne es. Mir persönlich scheint es, dass die stabilste und kraftvollste Führung durch diejenigen Personen gewährleistet würde, die in der beigefügten Liste genannt sind.[Die Beilage ist nicht erhalten. Ein anderes, im Gorki-Archiv befindliches Dokument zu diesemThema enthält u.a. die Namen der Schriftsteller W. Iwanow, B. Jasenskij und N. Tichonov] Aber sogar für den Fall, dass die von mir vorgeschlagene Zusammensetzung angenommen wird, bitte ich nachdrücklich darum, mich aus Gründen meiner schwachen Gesundheit und äußerster Überlastung mit literarischer Arbeit von dem Vorsitz des Verbandes zu entbinden. Ich verstehe nichts vom Geschäft des Vorsitzenden, und noch weniger bin ich in der Lage, mich in den jesuitischen Hinterhältigkeiten der Gruppenpolitik zurechtzufinden. Als Arbeiter der Literatur werde ich wesentlich nützlicher sein. Bei mir hat sich eine Menge von Themen angesammelt, für deren Bearbeitung mir die Zeit fehlt. Ich drücke Ihnen herzlich die Hand und wünsche Ihnen gute Erholung. M. Gorki
2. GORKI AN STALIN, datiert „nicht vor dem 7-10 März 1936“ (weil G. darin von einem Besuch des französischen Schriftstellers André Malraux in G.s Haus auf der Krim berichtet, der zu der angegebenen Zeit stattfand)
Teurer Iosif Wissarionowitsch – ich berichte Ihnen von den Eindrücken, die ich von dem unmittelbaren Bekanntwerden mit Malraux erhalten habe. Ich habe von Babel [1940 in Haft umgekommen], den ich für einen ausgezeichneten Menschenkenner und für den klügsten unter unseren Literaten halte, viele lobende und solide begründete Äußerungen über Malraux erfahren. Babel kennt Malraux seit vielen Jahren und hat, als er in Paris lebte, seine wachsende Bedeutung in Frankreich aufmerksam verfolgt. Babel sagt, dass sogar Minister mit Malraux rechnen müssen und dass er unter der Intelligenz der romanischen Länder die bedeutendste, talentierteste und einflussreichste Figur sei, die zudem noch Organisationstalent besitze. Die Meinung Babels bestätigt auch mein anderer Informant Marija Budberg, die Sie bei mir gesehen haben; sie bewegt sich seit langem unter den Schriftstellern Europas und kennt alle Beziehungen, alle Bewertungen. Ihrer Meinung nach ist Malraux wirklich ein Mensch mit außerordentlichen Fähigkeiten. Von meinem unmittelbaren Bekanntwerden mit ihm hat sich bei mir ein annähernd gleicher Eindruck gebildet: ein sehr talentierter Mensch mit einem tiefen Verständnis für die universale Bedeutung der Arbeit der Union der Sowjets. Er versteht, dass der Faschismus und die nationalen Kriege eine unausweichliche Folge des kapitalistischen Systems sind und dass man der Intelligenz, wenn man sie gegen Hitler und seine Philosophie und gegen den japanischen Militarismus organisieren will, die Überzeugung von der Unausweichlichkeit einer weltweiten sozialen Revolution nahebringen muss. Über die praktischen Entscheidungen, die wir getroffen haben, wird Sie Genosse Kolzow unterrichten [M. Kolzow, zu dieser Zeit der prominenteste Journalist der Sowjetunion, ein ergebener Anhänger Stalins und auch mit G. eng verbunden;1938 erschien eine Monographie K.s über Gorki, wenig später wurde er verhaftet und umgebracht] Mängel Malraux‘s sehe ich in seiner Neigung, zu sehr auf Einzelheiten einzugehen, über Nebensächlichkeiten so viel zu reden, wie sie es nicht verdienen. Ein wesentlicherer Mangel betrifft seine für die ganze Intelligenz Europas typischen Bekenntnisse „für den Menschen, für die Unabhängigkeit seines künstlerischen Schaffens, für die Freiheit seines inneren Wachstums“ usw.Genosse Kolzow berichtete mir, dass Malraux‘ erste Fragen Schaginjan und Schostakowitsch betrafen. Das Hauptziel dieses meines Briefes ist es, Ihnen ebenso offen von meiner Einstellung zu diesen Fragen zu erzählen. Ich bin Ihnen aus diesem Anlass bisher noch nicht lästig gefallen, aber jetzt, da wir uns mit der breiten Vereinigung der europäischen Intelligenz beschäftigen müssen, müssen diese Fragen gestellt und geklärt werden Sie haben in Ihren öffentlichen Auftritten und auch in Artikeln in der „Pravda“ im letzten Jahr mehrfach von der Notwendigkeit einer „behutsamen Beziehung zum Menschen“ gesprochen. Im Westen hat man das gehört, und das hat die Sympathien uns gegenüber gehoben und erweitert. Aber nun ist diese Geschichte mit Schostakowitsch zum Ausbruch gekommen. Über seine Oper [„Lady Macbeth von Mzensk“] sind lobende Rezensionen in beiden Organen der zentralen Presse und in vielen Provinzzeitungen erschienen. Die Oper ist mit großem Erfolg in Theatern Leningrads und Moskaus aufgeführt worden, hat ausgezeichnete Bewertungen im Ausland erhalten. Schostakowitsch ist jung, um die 25, ohne Zweifel ein talentierter Mensch, aber auch sehr selbstbewusst und krankhaft nervös. Der Artikel in der „Pravda“ [„Chaos statt Musik“, 28.01.1936] hat ihn getroffen wie ein Ziegelstein auf den Kopf, der Junge ist völlig niedergeschmettert. Es versteht sich, dass ich, wenn ich von einem Ziegelstein spreche, nicht die Kritik als solche meine, sondern den Ton der Kritik. Aber auch die Kritik selbst ist nicht beweiskräftig. Warum „Chaos“? Worin und wie ist das ausgdrückt, das „Chaos“? Hier müssen die Kritiker eine technische Bewertung der Musik Schostakowitschs geben. Aber das, was der Artikel in der „Pravda“ gegeben hat, erlaubte einer Schar talentloser Menschen und Pfuscher, in beliebiger Form eine Hetzjagd auf Schostakowitsch zu eröffnen. Und das tun sie auch. Schostakowitsch lebt ganz mit dem Gehör, er lebt in einer Welt der Töne, will ihr Organisator sein, aus dem Chaos eine Melodie schaffen. Die in der „Pravda“ ausgedrückte Beziehung zu ihm kann man unmöglich „behutsam“ nennen, aber eben dies verdient er voll und ganz – eine behutsame Behandlung als der begabteste von allen heutigen sowjetischen Musikern.
[Es folgen noch Bemerkungen zu ähnlichen Vorgängen, die Moskauer Theater betreffen. Eine Schlussformel fehlt, vermutlich deshalb, weil die Publikation sich auf den Entwurf des Briefes stützt]
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