''Blinde Fanatiker und Abenteurer" - Zum 90. Jahrestag der Oktoberrevolution
Dienstag, 20. November 2007, 10:03:13

Trotzki, Lenin und Kamenev (von links)
Heute vor 90 Jahren, am 20. November 1917 (am 7. November nach dem damals in Russland gültigen Julianischen Kalender) erschien in der Petrograder Zeitung „Novaja zhizn‘“ (Neues Leben) ein Artikel von Maxim Gorki unter der Überschrift „An die Demokratie“ (zu verstehen als die Demokratiebewegung). Dieser Artikel, ein Beitrag in der Serie „Unzeitgemäße Gedanken über Revolution und Kultur“, war die erste Reaktion des Schriftstellers auf den Oktoberumsturz, die Machtergreifung der Bolschewiken, die sich am 25. Oktober (7. November) vollzogen hatte. Schon in den vorhergehenden Beiträgen hatte sich Gorki in scharfer Form gegen einen – gerüchteweise bevorstehenden – bewaffneten Aufstand ausgesprochen. Mit ihm, so erklärte Gorki, drohe eine Wiederholung der „abstoßenden Szenen“, die er im Juli des gleichen Jahres während eines missglückten Umsturzversuchs der Bolschewiken beobachtet und scharf verurteilt hatte. Gorki und die Gruppe der „Sozialdemokraten-Internationalisten“, auf deren Initiative „Novaja zhizn‘“ seit Mai 1917 erschien, hielten eine siegreiche sozialistische Revolution in Russland unter den herrschenden Bedingungen für unmöglich und Versuche in dieser Richtung für verantwortungslos, sie traten ein für eine sozialistische Koalitionsregierung, für die Verfassunggebende Versammlung, einen allgemeinen demokratischen Frieden, eine Landreform und die Arbeiterkontrolle. Gorki selbst rief seine Landsleute auf, sich gemeinsam „an die Arbeit einer umfassenden Entwicklung der Kultur“ zu machen.
Zur Verteidigung dieser Linie wendet sich Gorki gegen die bolschewistischen Führer, in seinen Augen „blinde Fanatiker und gewissenlose Abenteurer“. Nach diesem und den darauf folgenden Auftritten Gorkis begann in der bolschewistischen Presse, vor allem der „Pravda“, eine heftige Polemik gegen „Novaja zhizn‘“, an der u.a. auch Stalin beteiligt war. Am 16 Juli 1918 wurde die Zeitung verboten.
Gorkis „Unzeitgemäße Gedanken“ wurden 1918 in zwei Buchausgaben (Berlin und Petrograd) veröffentlicht, bald danach verschwanden sie aus der öffentlichen Diskussion und wurden ca 70 Jahre in Russland nicht mehr publiziert. In vollem Umfang erschienen sie erstmals 1990 (M.G., Nesvoevremennye mysli o revoljucii i kul’ture, publiziert und kommentiert von I. Vajnberg). Eine deutsche Übersetzung der „Unzeitgemäßen Gedanken“, herausgegeben von Bernd Scholz, ist 1972 in Frankfurt a.M.erschienen.
Was den Leser im heutigen Russland an dem folgenden Text beeindrucken kann, ist vor allem die hohe Tonlage, der pathetische Ernst, mit dem die Begriffe Demokratie, Menschenrechte und Freiheit des Wortes gebraucht werden. Eine neue Begegnung mit solchen Denkmälern der alten demokratischen Intelligenz kann den Leser zum Nachdenken darüber anregen, wie es zu der heute so verbreiteten verächtlichen Einstellung zu diesen Begriffen gekommen ist, die sie fast zu Schimpfwörtern gemacht hat (demokrat, demshiza, etwa ‚Demidiot‘ u.ä.). Mir scheint, es wäre für die heutige russische Gesellschaft sinnvoll und nützlich, die Achtung vor diesen – keineswegs nur „westlichen“ – Werten wiederherzustellen.
Übersetzung A. Knigge. >> Originaltext.
Die Minister der Sozialisten (1), die von Lenin und Trotzki aus der Peter-Pauls-Festung freigelassen wurden, sind nach Hause gefahren und haben ihre Kameraden M.V. Bernackij, A.I. Konovalov, M.I. Tereshchenko und andere in der Gewalt von Menschen zurückgelassen, die keinerlei Vorstellung von der Freiheit der Person und den Menschenrechten besitzen.
Lenin, Trotzki und ihre Weggenossen sind bereits vom faulen Gift der Macht infiziert, davon zeugt schon ihre schändliche Einstellung zur Freiheit des Wortes, zur Person und zu der ganzen Summe jener Rechte, für deren Sieg die Demokratie gekämpft hat.
Blinde Fanatiker und gewissenlose Abenteurer rasen Hals über Kopf angeblich der „sozialen Revolution“ entgegen. In Wirklichkeit aber ist dies der Weg in die Anarchie, in den Untergang des Proletariats und der Revolution.
Auf diesem Wege halten es Lenin und seine Mitstreiter für erlaubt, Verbrechen aller Art zu begehen, wie das Massaker bei Petersburg (2), die Verwüstung Moskaus (3), die Vernichtung der Redefreiheit (4) und unsinnige Verhaftungen – also alle Scheußlichkeiten, die Pleve und Stolypin (5) begangen haben.
Natürlich – Stolypin und Pleve haben gegen die Demokratie und gegen alles Lebendige und Ehrenhafte in Russland gekämpft, während hinter Lenin – vorerst noch – ein bedeutender Teil der Arbeiter steht, aber ich glaube, dass die Vernunft der Arbeiterklasse und das Bewusstsein ihrer historischen Aufgaben ihr bald die Augen öffnen wird über die Unerfüllbarkeit der Versprechungen Lenins, für das ganze Ausmass seiner Unvernunft und seinen Anarchismus im Stil Nechaev-Bakunins (6).
Die Arbeiterklasse wird begreifen müssen, dass Lenin auf ihrem Fell und mit ihrem Blut nur ein Experiment veranstaltet und versucht, die revolutionäre Stimmung des Proletarats zum Äußersten zu treiben, um herauszufinden: was kommt dabei heraus?
Natürlich glaubt er unter den gegebenen Bedingungen in Russland nicht an die Möglichkeit eines Sieges des Proletariats, aber möglicherweise hofft er auf ein Wunder.
Die Arbeiterklasse muss wissen, dass es Wunder in der Wirklichkeit nicht gibt, sie muss wissen, was sie erwartet: Hunger, völlige Zerrüttung der Industrie, Zusammenbruch des Verkehrs, lang anhaltende blutige Anarchie und danach – eine nicht weniger blutige und finstere Reaktion.
Dahin führt sein heutiger Führer das Proletariat, und man muss verstehen, dass Lenin kein allmächtiger Zauberer, sondern ein kaltblütiger Gaukler ist, der weder die Ehre noch das Leben des Proletariats zu schonen bereit ist.
Die Arbeiter dürfen Abenteurern und Wahnsinnigen nicht erlauben, schändliche, sinnlose und blutige Verbrechen auf sein Haupt zu wälzen, für die nicht Lenin, sondern das Proletariat selbst bezahlen wird.
Ich frage:
Erinnert sich die russische Demokratie an die Ideen, für deren Sieg sie gegen den Despotismus der Monarchie gekämpft hat?
Hält sie sich für fähig, diesen Kampf auch heute fortzusetzen?
Erinnert sie sich daran, dass sie die Kampfmethoden der Monarchie niederträchtig genannt hat, als die Gendarmen der Romanovs ihre geistigen Führer ins Gefägnis und zur Zwangsarbeit schickten?
Worin unterscheidet sich die Einstellung Lenins zur Freiheit des Wortes von der der Stolypins, Pleves und anderer Unmenschen?
Packt nicht das Regime Lenins genauso wie das Regime der Romanovs alle Andersdenkenden und schleift sie ins Gefängnis?
Warum sitzen Bernackij, Konovalov und andere Mitglieder der Koalitionsregierung in Haft, – sind sie etwa in irgendeiner Weise schuldiger als ihre sozialistischen Genossen, die Lenin freigelassen hat?
Die einzige ehrliche Antwort auf diese Fragen muss die unverzügliche Forderung sein, die Minister und andere unschuldig Verhaftete freizulassen und die Freiheit des Wortes in vollem Umfang wiederherzustellen.
Sodann müssen die vernünftigen Elemente der Demokratie weitere Konsequenzen ziehen: sie müssen entscheiden, ob der Weg von Verschwörern und Anarchisten vom Typ Nechaevs auch ihr Weg ist.
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(1) Die Rede ist von den Ministern der Provisorischen Regierung, die in der Nacht auf den 26. Oktober verhaftet worden waren (mit Ausnahme des Premierministers A.F. Kerenskij, der am 25. Oktober aus Petrograd geflohen war).
(2) Gorki meint wahrscheinlich den Kampf bei Pulkovo zwischen den Kosaken des Generals Krasnov und den Rotgardisten am 12. November.
(3) Es geht um den Moskauer Aufstand vom 28. Oktober bis 3. November. Rotgardisten und andere revolutionäre Einheiten kämpften gegen eine Abteilung von Fähnrichen, die den Kreml verteidigte. Gorki war Zeuge dieser Ereignisse, sein Bericht „In Moskau“ löste heftige Kritik in der bolschewistischen Presse aus.
(4) Nach der Verhaftung der Provisorischen Regierung am 26. Okotober ließ das Petrograder Revolutionskomitee am selben Tag eine Reihe von rechtsbürgerlichen und liberalen Zeitungen schließen, ohne das entsprechende Dekret des Rates der Volkskommissare abzuwarten.
(5) V.K. Pleve, Innenminister und Polizeichef seit 1902, 1904 von einem Sozialrevolutionär ermordet; P.A. Stolypin, seit 1906 Innenminister und Vorsitzender des Ministerrats. In der Epoche der Reaktion 1907-1911 rechnete er erbarmungslos mit der revolutionären Bewegung ab; 1911 von einem Provokateur, dem Agenten des Staatsschutzes D. Bogrov, ermordet.
(6) S.G. Nechaev (Netschajew) (1847-1882), Revolutionär und Terrorist, Autor des berüchtigten „Katechismus des Revolutionärs“, der im Kampf für den Sieg der Revolution jedes Mittel sanktionierte; Prototyp des Petr Verchovenskij in Dostojewskis Roman „Die Dämonen“ (Besy). – M.A. Bakunin (1814-1876), Autor der einflussreichen Programmschrift des Anarchismus „Staatlichkeit und Anarchie“.