Gorkis "Kinder der Sonne" im Malyj teatr
Sonntag, 26. April 2009, 12:07:46

Vasilij Bochkarev in der Rolle des Chemikers Protasov
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„Kinder der Sonne“ am Moskauer Malyj teatr – das ist, wie die Kritikerin Marija Sedych in dem Journal „Itogi“ feststellt, „eines der seltenen Schauspiele an unserem Theaterhimmel, über die man ernsthaft nachdenken und sprechen möchte“. Das breite und vielstimmige Medienecho nach der Premiere am 15. Oktober 2008, das sich bis in die ersten Monate dieses Jahres fortsetzte, hat diese Ansicht bestätigt. Ein Erfolg war zwar erwartet und vorausgesagt worden, aber doch nicht in dieser Intensität. Premieren im Malyj, einem der angesehensten und traditionsreichsten Theater Russlands, sind immer kulturelle Ereignisse; dazu kam in diesem Fall der Name des Regisseurs: Adolf Shapiro ist ein berühmter Mann, seine Inszenierungen (u.a. von Tschechows „Kirschgarten“) gelten als Muster einer im besten Sinne konserativen Theaterarbeit, die das Material in einer ganz eigenen Weise zum Leben erweckt. Nicht ganz überraschend war auch der Autor Gorki, den sich Shapiro für seine erste Arbeit am Malyj gewählt hatte. Er hat zuvor am Theater „Tabakerka“ in Moskau „Nachtasyl“ inszeniert, das dort immer noch mit Erfolg gespielt wird. Gorki war auch am Malyj teatr kein Novum. Allerdings fanden die letzten Inszenierungen in den 80-er Jahren statt und repräsentierten den Geist der (spät)sowjetischen Klassikerpflege. Dass aber die Rückkehr Gorkis auf diese Bühne mit dem Stück „Kinder der Sonne“gefeiert wurde, sorgte für Verwunderung. Denn dieses Stück enthält alle diejenigen Komponenten, die in der heutigen Theaterszene als veraltet oder sogar als unerträglich gelten: zugespitzte soziale Konflikte, philosophische Erörterungen über die Rolle der Intelligenz, (melo)dramatische Liebesbeziehungen und pathetische Monologe, manchmal direkt in den Zuschauerraum gerichtet. Nicht zufällig schien dieses Stück seit langem von den Spielplänen verschwunden zu sein.
Gorki hat das Stück 1905 in der Petersburger Peter-Paul-Festung geschrieben, wo er wegen seiner Teilnahme an Protesten gegen die grausame Militäraktion des sogenannten „Blutsonntags“ in Arrest gehalten wurde. Die Schüsse auf die Demonstration von Arbeitern, eigentlich mehr eine Bittprozession, leiteten die Ereignisse der ersten russischen Revolution ein. Das Stück ist von der Vorausahnung einer sozialen Katastrophe geprägt. Der strahlende Titel „Kinder der Sonne“ besagt aber keineswegs, dass der Autor diesen Ereignissen mit Begeisterung entgegensieht. Gorki zeichnet in „Kinder der Sonne“ vielmehr das düstere Bild einer Gesellschaft, die, von sozialen und kulturellen Konflikten zerrissen, unfähig ist zur Schaffung einer neuen Welt. Zu diesen Konflikten gehört traditionell die Entfremdung der kleinen gebildeten Schicht, der Intelligenzija, von der Masse des „Volkes“. Im Stück wird diese Entfremdung in Gestalt des Chemikers Protasov vorgeführt, der sich in die Welt seines Laboratoriums vergaben hat und davon träumt, den Menschen zum „Herrscher über die Natur“ zu machen. Während eines Choleraaufstands erlebt er die böse Überraschung, dass die Vertreter des Volkes ihre künftige Herrscherrolle ganz anders verstehen. Sein proletarischer Mitarbeiter, der Schlosser Jegor, von dessen „goldenen Händen“ der Professor schwärmt, erweist sich als einer der Anstifter des Pogroms, das das Finale des Stücks bildet und den Professor und seine Familie in eine lebensbedrohliche Situation bringt. Dieses düstere Symbol eines „russischen Aufstands“, seit Puschkin ein beständiges Thema in der russischen Literatur, wird im Stück begleitet von einer Reihe personeller Katastrophen. Der Tierarzt Chepurnoj begeht Selbstmord, weil Liza, Protasovs Schwester, seine Liebe zurückgewiesen hat. Liza, die Chepurnoj eigentlich geliebt hat, verliert den Verstand, als sie von seinem Tod erfährt. Jelena, Protasovs Frau, wird von Ihrem Mann achtlos behandelt und flüchtet sich in eine Beziehung mit dem Künstler Vagin. Erfolglos um die Liebe des Chemikers wirbt die reiche Witwe Melanija, die sich in die Welt der Intelligenzija verirrt hat. Sie sieht in ihm ein höheres Wesen und himmelt ihn ebenso aufrichtig wie lächerlich an. In den unteren Schichten der Gesellschaft sind die Beziehungen nicht menschlicher. Das Zimmermädchen Fima verkauft sich an einen reichen alten Mann und Jegor, der erwähnte Klassenfeind des Professors, prügelt seine Frau fast zu Tode. Auf die Vorhaltungen Protasovs, dass Schlagen unzulässig sei, antwortet er: „Mich haben sie auch geschlagen... sogar sehr viel, und die Frau ist ja, kann man sagen, kein Mensch.“ Das Wort Mensch klingt in diesem Drama nicht „stolz“, wie in Satins berühmtem Monolog in „Nachtasyl“. Protasovs Worte am Schluss – „Die Menschen müssen hell und klar sein ... wie die Sonne“, nehmen dieselbe seltsame Färbung an, die den lyrischen Versen der geistesgestörten Liza eigen ist.
„Mir schien, dass dieses Stück heute besonders aktuell klingt“, sagte Shapiro in einem Interview für die Agentur RIA Novosti. „Ich habe es inszeniert als einen Gegensatz zu der Grausamkeit, die sich in der Welt verbreitet hat“. Die Konzeption des Regiesseurs ist jedoch weit entfernt von politischer Agitation oder einer bedenkenlosen Aktualisierung des vor hundert Jahren entstandenen Dramas: „Ich bemühe mich immer, eine dumme und banale Modernisierung zu vermeiden, aber ich bin auch nicht für die schlichte Ähnlichkeit mit dem Alltagsleben. Ich bemühe mich darum, den schmalen Grat zwischen Gegenwart und Tradition zu finden.“ Shapiro setzt damit die Tradition des Malyj teatr fort, das bekannt ist für seine ablehnende Haltung gegenüber der konceptual’naja rezhissura, dem Regietheater, und seiner Neigung zu gewagten Modernisierungen. Mit der Klassik, Nikolaj Ostrowski, Anton Tschechow und auch Maksim Gorki, geht man dort behutsam um.
Nach den Rezensionen zu urteilen, die auf der Website des Malyj teatr gesammeltsind (mehr als 20 an der Zahl) ist es dem Regisseur gelungen, eine eindrucksvolle, im gegenwärtigen Kontext seltene Theaterproduktion zu schaffen. Dabei hat die Inszenierung sowohl in der Bewertung als auch in der Deutung des Themas sehr verschiedene Reaktionen hervorgerufen. Die ersten Verlautbarungen des Theaters über das Projekt lösten Erstaunen aus: „Kinder der Sonne“ im Malyj , dazu in einer Inszenierung Shapiros? Die Kritikerin Anna Sheveleva beginnt ihre Rezension in dem Internet-Journal „Arkado“ mit den Worten: „Staatsbürgerliches und soziales Pathos sind heute nicht in Mode. Besonders nicht in der Art, in der Maxim Gorki seine Helden reden lässt.“ In der weiteren Argumentation macht die Autorin klar, dass Shapiro keineswegs versucht hat, auf der Bühne des Malyj den Klassiker der Sowjetperiode auferstehen zu lassen. Aber andere Kritiker – wenn auch in der Minderheit – haben die Aufführung genau so verstanden. „Das einst aktuelle Stück erscheint heute als ein dunkler Anachronismus“, erklärt Marina Davydova („Izvestija“), und Maja Odina („Afisha“) pflichtet ihr bei: „Jede Replik – ein Losung, jede Szene – eine Liebesszene, so unbeholfen, sinnlos und endlos erscheint das Stück heute.“ Mit umgekehrter, uneingeschränkt positiver Bewertung, aber im Grunde mit der gleichen Tendenz reagiert der Kritiker der „Pravda“ Viktor Kozhemjako: „Gorkis künstlerisches Genie wird heute auf jede Weise herabgesetzt... Um sich zu überzeugen, wie groß er wirklich ist, braucht man nur in die Aufführung des Malyj teatr zu gehen.“ Der Verfasser zweifelt offenbar nicht daran, dass dem Zuschauer auf der Bühne des Malyj der Begründer des sozialistischen Realismus gleichsam zurückgegeben worden ist und dass dieser Gorki ein ewiges und unzerstörbares Denkmal darstellt: „Klassik ist Klassik.“
Im Unterschied zu diesen offenkundig einseitigen Konzepten stellt die schon zitierte Alla Sheveleva fest, dass Shapiro „einen völlig neuen Zugang zu diesem schwierigen Material gefunden hat“, und diese Meinung teilt die Mehrheit der Kritiker, ungeachtet der Unterschiede im einzelnen. Gelobt wird vor allem das hohe künsterlische Niveau der Aufführung. Grigorij Zaslavskij („Nezavisimaja gazeta“) beschreibt anschaulich die Wirkung des Spiels der Akteure auf die Zuschauer in der Pemiere: „Dreiundeinviertel Stunden - das ist nach heutigen Maßstäben viel, und als die Aufführung zuende geht, applaudiert der Saal sieben Minuten lang, viele stehend. Kilometer von Text hören die Besucher mit aufrichtigem Interesse an. Fast alle Akteure sind gut, einfach hervorragend, erklärt der Verfasser, auf der Szene geht etwas vor sich, was nur selten gelingt: „die Geburt und das Sterben einer ganzen Welt“. Eine glänzende Leistung wird besonders dem Hauptdarsteller Vasilij Bochkarev in der Rolle des Gelehrten Protasov bescheinigt. Anna Gordeeva („Vremja novostej“) beschreibt sein Spiel: „Er bewegt sich schnellen Schrittes von Raum zu Raum (manchmal kommt er nicht rechtzeitig an und irgendetwas explodiert im Reagenzglas), und zeigt so anschaulich seine Eingeschlossenheit in die zyklischen Strukturen der Wissenschaft und seine absolute Blindheit.“ (Zum Spiel der übrigen Akteure s. den ausführlichen Auszug aus der Rezension von Natalija Kaminskaja im Kasten.)
Ein wahres Fest – das Schaupielerensemble
Die Menschen im Haus Protasovs leben mit ihren Leidenschaften und Schwächen, ohne zu wissen, dass jenseits der Wände schon der Sturm der Veränderung losgebrochen ist. Ein Vorgefühl des Unheils hat nur die Schwester des Haupthelden Liza, aber sie ist von irgendeiner seelischen Krankheit heimgesucht und ihre Vorahnungen nehmen sich wie die dekadenten Phantasien aus, die am Anfang des 20. Jahrhunderts in Mode waren. Ljudmila Titova vermittelt sehr gut dieses Krankhafte – sie zeigt eine seltsam angespannte Gestik, einen konzentrierten, „nicht sehenden“ Blick.
Überhaupt besteht das wahre Fest dieser Aufführung in dem, was man ein „Schauspielerensemble“ nennt. Hier spielt man überlegt, tief und sicher, mit genauesten Details, mit schönen Einzelheiten. In Verbindung mit einer professionellen, klaren Regie sind die Künstler des Malyj teatr imstande, dem Zuschauer echtes Vergnügen zu bereiten. Jevgenija Glushenko als Melanija Tschepurnaja, die in den Gelehrten verliebt ist, spielt in bemerkenswerter Weise das naive Feuer und die aufrichtige Begeisterung einer Frau aus dem Milieu der Neureichen, die geistig arbeitenden Menschen begegnet. Es zieht sie in dieses Haus, wo es warm, schön und sicher zu sein scheint. Melanija ist komisch, vulgär, aber auch schrecklich einsam, und diese menschlich verständliche Befindlichkeit weckt Sympathie.
Eine glänzende Leistung zeigt Ljudmila Poljakova in der Rolle der Kinderfrau (njanka). Auch sie spürt das Unglück voraus, aber auf ihre eigene Art, mit der Besorgtheit einfacher Menschen aus dem Volk, die in diesem Haus niemand versteht. Viktor Nizovoj spielt den unglücklich in Liza verliebten Veterinär Chepurnoj, und wir erleben das Drama eines starken, ganz irdischen Menschen, der unter der Last eines maßlosen Gefühls zusammenbricht. Gleb Podgorodinskij spielt in der Rolle des Künstlers Vagin mit unnachahmlicher Elegenz einen Vertreter der Boheme. Gorki hat ihm offensichtlich satirische Texte in den Mund gelegt, endlose Liebeserklärungen, voll von Ausschmückungen und literarischen Archaismen. Aber bei diesem Schauspieler erscheint selbst das vermenschlicht, gefärbt durch eine verständliche Verlorenheit und Einsamkeit. Dagegen ist der Arbeiter Jegor wahrhaft furchterregend, Aleksandr Korshunov macht von der ersten Szene an sowohl die betrunkene Dummheit spürbar als auch die explosive sinnlose Energie dieses dem Herzen Protasovs so nahe stehenden Proletariers. Gut ist die Szene, in er die schöne und edle Elena Protasova (gespielt von Svetlana Amanova) mit jesuitisch stumpfsinniger Hartnäckigkeit zu seiner an Cholera erkrankten Frau schickt.
Natalija Kaminskaja: Neue Zahlung auf alte Rechnungen. „Kul’tura“, 22.10.2008.
Einigen Kritikern ist die überraschende Nähe zu der Dramaturgie Tschechows aufgefallen. Shapiro hat dieses Tschechow-Potential in Gorkis Stück durch jene sorgfältige psychologische Arbeit an jedem einzelnen Charakter zum Vorschein gebracht, die auf die Tradition der gemeinsamen Arbeit Tschechows und Gorkis am Moskauer Künstlertheater zurückgeht. Dieser Zugang drückt sich in einer gewissen Depolitisierung des Themas und einer Milderung des Pathos und der scharfen Konflikte aus. Klara Saeva (“Interfax) ist der Meinung, Gorki werde hier bis zur Unkenntlichkeit an die tschechowsche Dramaturgie angepasst: „Shapiro schafft auf der Bühne unter idyllischen Bedingungen ein Familiendrama mit einer großen Zahl von Personen, tragischen und komischen – ohne zugespitzte Intrigen und Leidenschaften, ohne Aggression.“ Die Verfasserin bemerkt mit Recht, dass man „Gorki so nicht aufführt“, jedenfalls üblicherweise nicht, aber über „idyllische Bedingungen“ zu sprechen, scheint doch stark übertrieben. Mit der Dämpfung des Tons eröffnet Shapiro dem heutigen Publikum einen neuen Zugang, der der Neigung dieses Publikums nicht zu Pathos, sondern eher zu einem beobachtenden, neugierigen Blick auf das Geschehen entspricht, auch wenn dieses Geschehen historisch weit entfernt und „seltsam“ erscheint. Aber das schließt eine lebendige Anteilnahme der Zuschauer an diesem Leben nicht aus. Alla Sheveleva charakterisiert die Arbeit des Regisseurs an Gorkis Text mit den Worten: „Dort, wo bei dem Autor gesteigerter Affekt (nadryv) herrscht, erscheint bei ihm Trauer. Für flammende staatsbürgerliche Monologe findet er den Ton des Bekenntnisses. Die Handlung stützt sich auf ein extrem feines, virtuoses Spiel der Akteure.“ Auf diese Weise wird beim Zuschauer nicht nur Mitgefühl mit den einzelnen Personen erzeugt, sondern auch jene allgemeine„Vorahnung der Katastrophe“ vermittelt, die die Atmosphäre der Aufführung bestimmt.
„Dies ist eine stille, zarte und lyrische Aufführung über „tschechowsche Menschen“ und über ein zugrunde gerichtetes, sinnloses Leben“, erklärt Jevgenija Shmeleva („Novye izvestija“). Der Regisseur hat sich jedoch mit diesem Resultat nicht zufrieden gegeben, fügt die Kritikerin hinzu. Seine Inszenierung sei „ein Versuch, zu der blinden und taubstummen Intelligenzija durchzudringen“, ihre Aufmerksamkeit zu erzwingen. Dieser Versuch ist jedoch nach Ansicht der Verfasserin gründlich misslungen. Gorki Sentenzen hätten einst eine beflügelnde Wirkung gehabt, heute könne man sie nur noch mit einem Lächeln ertragen. Ähnliche Zweifel an der aktuellen Wirksamkeit des Stücks äußern auch andere Kritiker. Marina Davydova („Izvestija“) meint, die in „Kinder der Sonne“ beschriebenen Konflikte gehörten einer fernen Vergangenheit an. Die Tendenz des heutigen Lebens bestehe „nicht in der Abgetrenntheit der gebildeten Schicht vom Volk, sondern in der Verwischung aller und jeder Grenzen zwischen den sozialen Gruppen“. Wenn die Intelligenzija verschwinden sollte, so nicht deshalb, weil sie vom Sturm der Revolution hinweggefegt werde, sondern deshalb, weil sie sich freiwillig bereit erklärt hat, „die Geschmacksrichtungen und die Bedürfnisse des aggressiven und allgegenwärtigen Plebs zu bedienen“. Es stellt sich also, entgegen der von der Kritikerin behaupteten Nichtaktualität des dargestellten Konflikts, heraus, dass es offenbar doch einen gemeinsamen Nenner im Verhalten der Intelligenzija zu Gorkis Zeiten und in unseren Tagen gibt. Er besteht in der Schwäche und Rückgratlosigkeit der Elite des Landes und ihrem Opportunismus. Auf dieses Thema bezieht sich eine Reihe kritischer, z.T. heftig polemischer Äußerungen der Rezensenten. Grigorij Zaslavskij („Nezavisimaja gazeta“) charakterisiert die die Geistesarbeiter unter den Personen des Stücks als allesamt „verständnislose, ziellose, feige Menschen“. Und das seien die Vertreter der Intelligenzija bis heute geblieben. Der Kritiker scheut nicht davor zurück, ein bekanntes Wort Lenins über die Intelligenzija als „die Sch...e der Nation“ zu zitieren und seine Zustimmung dazu zu erklären : „Unangenehm, natürlich, aber – was soll man machen?!“ Nach Meinung des Schriftstellers Lev Anninskij klingen die „Kinder der Sonne“ „tief und machtvoll“, gerade heute, da die Bedeutung der Wissenschaft neuerlich in Zweifel gezogen werde und „der orthodoxe Segen jegliche Naturwissenschaft von der Bühne der Kultur verdrängt hat“. Natalija Kaminskaja („Kultura“) widerspricht entschieden denjenigen, die das Stück für nichtaktuell halten: „Ist das Thema etwa nicht aktuell, wenn man die ganze Geschichte der russischen Intelligenzija als eine Kette von glänzenden Durchbrüchen des Geistes betrachten, aber mit dem gleichen Recht auch – als eine folgerichtige Kette sozialer und geistiger Bankrotterklärungen?“ Zum gegenwärtigen Moment escheint nach Meinung der Kritikerin eher die zweite Interpretation zu passen. Würde heute ein neuer Gorki geboren, so würde er nicht über den Sturm schreiben, der sich jenseits der Mauern des Hauses erhebt, sondern „über den klebrigen Sumpf der sogenannten Stabilität“. Am Schluss ihres Beitrags spricht Kaminskaja jedoch einen Gedanken aus, der die harsche Kritik deutlich abmildert: „Wenn das Theater es dennoch vermag, den Proletariern des Geistes eine solche strenge Abrechnung zu präsentieren, so bedeutet das, dass eben diese Proletarier noch existieren, und das gibt ein wenig Anlass zur Hoffnung.“
Dieses Urteil kann man nicht nur auf die besprochene Aufführung, sondern auch auf den ganzen Komplex der kritischen Äußerungen über die „Kinder der Sonne“ beziehen. Sie bilden zusammen ein interessantes Gespräch, in dem, mit wenigen Ausnahmen, nicht die Stereotype dieser oder jener ideologischen Richtung zur Sprache kommen, sondern individuelle Meinungen, die auf den Eindrücken im Zuschauerraum aufbauen, formuliert mit der Erfahrung von professionellen Beobachtern des Theaters. Mir persönlich haben besonders diejenigen Rezensionen gefallen, in denen die Verfasser mit einer gewissen Unentschiedenheit und Nachdenklichkeit auf die Eindrücke von der Aufführung reagieren. Maja Folkinshtejn („Strastnoj bul’var, 10“) erzählt von ihren Gedanken in dem Moment, als das Licht im Saal angeht. Es sei ihr bewusst geworden, dass der Aufruf Protasovs, die Menschen müssten „Menschen bleiben, hell und klar wie die Sonne“, nicht nur an die Angreifer des Pogroms gerichtet sind, sondern „an uns, die Zuschauer“. Anfangs wirke eine solche Direktheit peinlich. Aber dann „wird man sich der ganzen Richtigkeit und vor allem der Zeitgemäßheit dieser fast predigthaften Botschaft der Aufführung bewusst“.
Die Inszenierung „Kinder der Sonne“ im Malyj teatr und die Reaktionen auf sie bezeugen, dass auch unter den Bedingungen der kulturellen Stagnation Produktionen von hoher Qualität möglich sind. Zugleich bezeugt dieses Ereignis das Vorhandensein ein qualifizierten Kritik, die fähig ist, das vieldeutige Sinnpotential einer solcher Aufführung zum Vorschein zu bringen. Mir scheint hier – im Rahmen einer elitären Kultur, teilweise aber sogar in Medien für breitere Kreise, etwa im Internet - ein Maß an geistiger Freiheit erreicht, das es so in Russland zuvor nicht gegeben hat. Adolf Shapiro sagte in einem Interview vor der Premiere: „Die Aufgabe des Theaters ist es, den Zuschauer aus dem Zustand der geistigen Statik in einen Zustand der seelischen Dynamik zu versetzen.“ In „Kinder der Sonne“ ist dem Regisseur allem Anschein nach eine solche Mobilisierung des Zuschauers gelungen. Für die Leser und Verehrer Maksim Gorkis bietet die Aufführung zudem einen Anlass zur Freude, sie markiert eine neue Etappe auf dem Weg der Entdeckung des „unbekannten Gorki“.